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Peter Brötzmann – Interview

    Datum: Winter 1992 |
    Autor: Peter Sempel |
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    Interview | Erschienen in "alert #4"

    Bei den Proben im Westwerk bist du beim Spielen der Klarinette durch den ganzen Raum gewandert. Warum bist du bei der eigentlichen Aufführung nicht durch das Publikum gegangen?

    Foto: Michael Hoefner

    Der Großvater eines Freundes von mir war Klarinettenspieler in einer Militärarmee-Pferdeband, und eines Tages hat das Pferd gescheut und die Klarinette sich durch seinen Hals gebohrt, kam hinten wieder raus. Das hat sich Ende des letzten Jahrhunderts zugetragen. Im Publikum kann es sehr eng sein – man weiß nie, wie die reagieren… Da kann man sich leicht ein paar Zähne aushaken. Es muss ja nicht gleich durch den Hals gehen…

    Du machst seit 30 Jahren Musik.

    Ich bin jetzt 51 Jahre alt, spiele aber schon länger als 30 Jahre, denn Du zählst meine Jahre als Amateur nicht hinzu. Damals allerdings, als ich in halbprofessionellen Swingbands spielte, waren mir die Malerei und die Bildene Kunst näher.

    Du hast vorher gemalt?

    Ja, ich habe das später auch studiert: Malerei und Grafik in Wuppertal. Damals nannten sich die Dinger noch Werkkunstschulen.

    Bist du ein echter Wuppertaler?

    Nee, ich wurde im Krieg in Remscheid geboren – aber das ist ja gleich um die Ecke. Mit 16 oder 17 Jahren bin ich von zu Hause abgehauen und wurde in der Werkkunstschule glücklicherweise gleich angenommen – Musik und Kunst liefen erst einmal lange Zeit parallel. Ich habe dann geheiratet und gleich zwei Kinder gemacht, ich war damals gerade 21, 22 Jahre alt. Da musste natürlich Geld verdient werden: Mit der Musik konnte man aber kein Geld verdienen, ich schon gar nicht. Ich habe mich also als Werbegrafiker betätigt, und nach dem Studium habe ich mich mit zwei Freunden, die mich später aber im Stich ließen, selbstständig gemacht, bis es mit der Musik besser lief, meine Kinder älter wurden und meine Frau wieder arbeiten gehen konnte. Es lief langsam aus. Die Arbeit hat mir ja schließlich auch Spaß gemacht. Aber leider hast du es in diesem Bereich häufig mit Menschen zu tun, denen du am liebsten nur noch in den Arsch treten würdest. Durch meine gleichzeitige Arbeit für Nam June Paik in der Galerie Parnaß in Wuppertal bekam ich auch Kontakt zu anderen Kreisen. Beuys und Wolf Vostell, die kamen ab und zu vorbei.

    Hast du Beuys jemals persönlich erlebt?

    Ja, klar. Er war ein unglaublich freundlicher Mensch. Ich habe sogar noch drei Briefe von ihm zu Hause. Aber die Arbeit mit Nam June Paik war für mich prägender und das eigentlich Wichtige.

    Was heißt das, „Du hast für Nam June Paik gearbeitet“?

    Ich habe seine Maschinchen in der Galerie heilgemacht, wenn sie kaputtgingen. Kennengelernt habe ich Paik, der ja ursprünglich aus der klassischen Musik kommt, in einem Kölner Theater. Dort lief Cage rum, Tudor, Macunias – die ganze Fluxus-Bewegung, die ja Anfang bis Mitte der 60er Jahre die wichtigste Bewegung in der Kunst war. Ich sehe ihn auch heute noch oft genug. Neulich hat er mir am Telefon gesagt, er würde gerne wieder nach Deutschland kommen. Naja, das waren so die Zeiten, in denen ich ein paar internationale Kontakte hatte.

    Deine Musik hat immer Elemente von Fluxus gehabt. Was verstehst du eigentlich darunter?

    Das ist schwierig, weil es auch so furchtbar vielfältig war. Weil da von Beuys bis Paik, von Dick Higgins bis hin zu Performance- und reinen Musikgeschichten alles enthalten war. Und meine Musik hatte insofern was damit zu tun, als dass Paik ab und zu zu Konzerten kam, oder Vostell oder Beuys mir ein paar freundliche Briefe schrieben. Die haben mir alle auf sehr unterschiedliche Art zu verstehen gegeben: „Mach weiter so!“ Das war für mich damals wichtig, weil sich die meisten meiner damaligen Musikerkollegen nur totgelacht haben.

    Warum haben sie dich ausgelacht?

    Weil ich in ihren Augen und Ohren alles falsch spielte, was überhaupt falschzuspielen war. So etwas Blödsinniges gab es damals einfach nicht. In Deutschland hatten wir die Nach-Bebop- Zeit, an der ich nicht interessiert war. Aber dann hat sich das umgedreht: Dann haben sie gemerkt, dass sie den Brötzmann doch ernstnehmen müssen. Dann kam es auch zu so etwas wie einer Zusammenarbeit in Deutschland, bevor mehr und mehr die amerikanischen Geschichten hinzukamen. In New York habe ich zum ersten Mal 1976 gespielt.

    Zehn Jahre später also. Weißt du eigentlich noch, wo dein erster Auftritt in New York war?

    Irgendwo in einer Galerie in Soho. Das war so ein Berliner Kunst-Austausch. Später ging es regelmäßig nach New York. Ein, zwei Mal im Jahr gab es dort immer was zu tun.

    Was passierte in den 60er und 70er Jahren, also vor New York?

    Da war Holland mein Hauptarbeitsfeld. Dort war auch das meiste los. Die finanzielle Situation war, durch vorhandene Subventionen, besser als in England oder Deutschland. Ich habe seit der Zeit lange Jahre mit dem holländischen Trommler Han Benning zusammengearbeitet, ebenso wie mit dem Komponisten und Klavierspieler Mischa Mengelberg, den ich auch durch Fluxus kennengelernt hatte. Schließlich habe ich mit einigen Kollegen für Paik in Amsterdam Ausstellungen aufgebaut.

    Kannst du kurz schildern, was du an Paik schätzt?

    Fangen wir mal andersrum an: Was ich damals geschätzt habe, waren diese kleinen, zerbrechlich und amateurmäßig gebastelten Maschinchen. Reparierte Klaviere, aber auch ganz kleine Geschichten, weil ich mich selbst mit meiner Kunst auch mit diesen Materialien beschäftigte. Als Mensch fasziniert er mich auch heute noch. Ich weiß nicht, was es ist – seine Freundlichkeit? Seine Offenheit? Ich muss mir nicht unbedingt jeden Fernsehturm von ihm ansehen, das ist nicht mein Bier. Aber er ist eine phantastische Person.

    Wenn man 30 Jahre lang so intensiv als Musiker arbeitet, dann wird Musik zu einem Ausdruck, der über den Klang eines Stücks hinausgeht. Da entwickelt sich etwas. Hat sich das, was du in deiner Musik ausdrückst, in der langen Zeit entwickelt oder verändert?

    Es wäre schlimm, wenn’s nicht so wäre! Ich war ja in den 60er Jahren das enfant terrible in der europäischen Jazz-Musik und wurde von den meisten Musikern entsprechend nicht ernstgenommen. Ich war der wilde Mann. Ich habe neulich mal meine ganze Plattenarbeit rekapituliert. Von der ersten bis zur letzten. Das sind an die 60 Platten. Eine ganze Menge, es ist aber auch soviel passiert in all den Jahren. Wenn du gestern im Westwerk zum Beispiel diese ganz zarten, leisen, sanften Klänge gehört hast, so waren die vor 15 Jahren noch nicht in meiner Arbeit vorhanden. Erstens werde ich auch älter, das ist ein Punkt, der gar nicht so unwichtig ist, und zweitens interessieren mich solche Dinge viel mehr als vor 20 Jahren.

    Die wilden Sachen machst du aber immer noch.

    Die liebe ich ja auch. Diese körperliche Betätigung war immer eine ganz wichtige Sache für mich. Es macht mir einen fast masochistischen Spaß, immer soweit zu gehen, wie es gerade geht. Gestern bin ich fast umgefallen, weil mir zusätzlich dieser Schnupfen so zusetzte.

    Ich habe dich einmal nach den Trommlern gefragt, da hast du gesagt, dass die schwarzen Trommler anders als die weißen wären. Kannst du das näher erklären?

    Foto: unbekannt

    Das sind Kleinigkeiten, die man fast nicht in Worte fassen kann. Ich habe ganz lange mit einem der besten europäischen Trommler gespielt, mit Han Benning, und durch die Arbeit ergaben sich ganz automatisch Kontakte zu den Amerikanern. Trommler haben mich immer interessiert. Der Trommler ist für mich meinetwegen auch der Inbegriff von Jazz-Musik. Ganz altmodisch. Ich will hier nicht das Bild vom wilden schwarzen Mann malen, aber allein durch Herkunft, Aufwachsen und Tradition, die auch jüngere Leute immer noch mitbekommen und somit haben, ob sie wollen oder nicht, entwickeln sich andere Dinge als in Europa. Ich will nicht ausschließen, dass es keine guten Europäer gibt, da fiele mir schon der eine oder andere ein. Und ich habe auch mit Amerikanern meine Enttäuschung erlebt – aber das hing wahrscheinlich auch mit mir zusammen, weil ich nunmal kein Neger bin. Ich bin noch nicht einmal Amerikaner, ich habe meine europäische Tradition. Auf der anderen Seite habe ich mich in den Staaten gut durchsetzen können. Ich habe mein Publikum – ob nun in Boston, Chicago oder New York.

    Ich möchte etwas vom Künstler-Vater über seinen Künstler-Sohn Caspar Brötzmann erfahren.

    Der Vater hat sich um den Sohn eigentlich nicht sehr viel gekümmert, und wir planten auch gar nicht die enge Zusammenarbeit, die sich jetzt ergeben hat. Vor zwei oder drei Sommern saßen wir bei mir im Garten, da tauchte ein Typ aus London auf. Der sagte, er habe Geld und würde uns gerne zusammenhaben. Das Geld war das schlechteste nicht. So gingen wir für zehn Tage in Bill Laswells gerade in Brooklyn eröffnetes Studio und haben vom ersten Tag an aufgenommen. Wir waren beide ganz zufrieden mit dem Resultat, und seit einiger Zeit arbeiten wir als Duo zusammen. Wir haben uns auch hinterher nicht drüber geärgert. Mal sehen, was noch kommt.

    Was macht Caspar eigentlich im Moment?

    Er hatte ein Trio, zusammen mit einem holländischen Trommler und einem spanisch- deutschen Bassisten. Mit dem Bassisten arbeitet er schon ewig zusammen. Ab und zu macht er ein paar andere Dinge: Mit Diamanda Galas hat er zusammengearbeitet, und mit Mufti von den Einstürzenden Neubauten gibt’s eine Gruppe. Er arbeitet unglaublich konsequent und sieht das auch langfristig.

    Das hat er geerbt.

    Er hat sich das alles selbst angeeignet. Vielleicht hat er ein bisschen mein hartnäckiges Beispiel gesehen.

    Spielst du eigentlich auch nach Noten?

    Ich habe es mal besser gekonnt als heute. Aber wenn ich zum Beispiel für meine Zehn-Mann- Band arbeite, dann erstelle ich mir schon ein Konzept, in dem auch Noten auftauchen, aber meistens gebe ich einfache Ideen und graphische Skizzen weiter.

    Du hattest eben kurz Diamanda Galas erwähnt. Auch du hast früher mit ihr gearbeitet.

    Sie war ab und zu Gast bei unseren Berliner Aktivitäten: In der Akademie der Künste und bei Last Exit. Unsere Zusammenarbeit beim Moers-Festival ging allerdings total in die Hose: Wir steckten stundenlang auf der Autobahn und kamen nicht rechtzeitig zum Soundcheck. So gab es eine einzige wilde 40-Minuten-Show. Leider habe ich nie einen Mitschnitt bekommen. Ich würde gerne mal jemanden treffen, der das damals aufgenommen hat. Vielleicht war es ja so übel nicht? Aber sie war furchtbar schlecht gelaunt, kann sie ja prima, weil sich die Machos in ihrer Band ständig produzieren mussten. Caspar, Diamanda und ich wollten zu dritt mal etwas entwickeln, nur das kostet Geld – und das haben wir bisher nicht gefunden.

    Wenn du eine Stunde oder länger vor dem Publikum stehst, baust du dann einen Spannungsbogen auf oder spielst du völlig frei?

    Wenn ich ein Konzert gebe, habe ich mir vielleicht vorher Gedanken darüber gemacht. Das heißt aber nicht, dass ich das dann auch machen muss. Ich kann ein vorhandenes Konzept durchaus total über den Haufen schmeißen. So suche ich mir immer die Leute aus, die ähnlich denken und arbeiten wie ich. Es hätte zum Beispiel keinen Sinn, wenn ich hier in Hamburg zum NDR ginge und mir mal eben einen Trommler ausleihe: Bei meinem Orchester, das ich seit zwei Jahren zusammen habe, weiß ich von vornherein, was ich erwarten kann. Das dann in Form zu bringen, ist meine Aufgabe: Ich mache Vorschläge, versuche dabei aber nicht zu dirigieren, sehr wohl aber zu initiieren.

    Wie heißt dieses Orchester?

    März Combo. Ich bin im März geboren, da fiel mir nichts anderes ein.

    Kannst du mir sagen, in welchen Städten du aufgetreten bist? Städte, an die du dich gerne erinnerst.

    In fast jeder japanischen Stadt bin ich schon gewesen. Inzwischen kenne ich die Inseln von Norden bis Süden.

    Wie ist das japanische Publikum eigentlich im Vergleich zu Europa und zur westlichen Welt?

    Die sind ungemein interessiert und wollen alles genau wissen. Ich bin furchtbar gerne dort. Dann gibt es Seoul. In Europa gibt es eine ganze Reihe von Städten, die ich mag. Ich gehe aber eigentlich viel mehr danach, wo in meiner musikalischen Richtung etwas stattfindet. Zur Zeit ist in Österreich und der Schweiz viel los, Italien war mal vor zehn Jahren interessant. Frankreich war auch mal vorne, ist dann verschwunden, kommt aber auch wieder. In Deutschland kenne ich mittlerweile fast jedes Dorf. Da fällt mir aber nicht besonders viel Angenehmes zu ein.

    Hamburg ist die schönste Stadt Deutschlands.

    Hamburg ist eine schöne Stadt, aber leider ist hier für mich und meine Arbeit nichts zu holen. Gerade in Bezug auf Musiker ist Hamburg immer eine konservative Stadt gewesen. Ich gehe hier wohl gerne spazieren, ich mag den Hafen, ich mag Wasser, ich mag Schiffe. Ich kenne hier auch ein paar angenehme Leute, zum Beispiel Demir Gökgöl. Er ist wirklich einer der wahren Idealisten. Vor einigen Jahren hatte er hier in Hamburg einen Jazzladen, den „Circle“. Er brachte das Beste vom Besten auf die kleine Bühne, aber die Hamburger honorierten das leider überhaupt nicht. Nach eineinhalb Jahren war dicht, und nun arbeitet er als technischer Zeichner bei Blohm & Voss, um die Schulden, sechsstellig, abzuarbeiten. Das ist schon eine Schande. Ich muss darauf achten, dass ich mich in einer Stadt aufhalte, in der ich arbeiten kann, wo mehr Leute sind als nur die zwei, die ich dort persönlich kenne. In den Staaten ist mir Chicago die liebste Stadt, und bei den Gagen muss man auch gucken, dass man was verdient.

    Wo gibt es eigentlich die höchsten Gagen?

    Das hängt sehr von den jeweiligen Projekten ab. Wenn ich das mal so generell überschlage – in Japan.

    Darf ich fragen, wie hoch deine höchste Gage war?

    Nein.

    In den letzten 30 Jahren warst du in sehr vielen Städten.

    Jaaa! Aber da müßte ich den Atlas zu Hilfe nehmen. Wir hatten zu Beginn des Jahres eine kleine Trio-Tour durch Westafrika. Die ging von Kamerun weiter nach Togo und Nigeria. Kamerun und Togo haben mir am besten gefallen. Wir haben in den unterschiedlichsten Läden gespielt. Vom Goethe-Institut bezahlt und zum Teil auch organisiert; manchmal haben wir sogar in den Instituten selbst gespielt. Wir haben im National Theatre von Lagos vor 2.500 Leuten gespielt.

    Wer ist „wir“?

    Das sind der Bassist Dieter Mandescheidt aus der Nähe von Köln und ein Trommler namens Frank Sander aus Düsseldorf. Es war die erste längere Tour, die wir zusammen gemacht haben, die Akzeptanz der Leute war phantastisch. Wir waren wirklich überrascht.

    Kannst du sagen, dass es in verschiedenen Ländern verschiedene Reaktionen auf die gleiche Musik gibt?

    Gibt es schon. Selbst im kleineren Umfeld, in Europa: Für die Franzosen war ich immer zu kräftig und nicht delikat genug. Für die Engländer war ich der Teutone, der dann mal über den Kanal kommt. So kleine blödsinnige Vorurteile gibt’s natürlich immer. Aber glücklicherweise kann man die ja abbauen. Selbst in den Staaten ist es aufgrund der Größe des Landes sehr unterschiedlich. Ob du nun im kühlen Boston spielst oder ob du in Atlanta oder irgendwo in Texas bist. Weiß der Teufel. Da gibt es riesige Unterschiede. Oder das fürchterlich snobistische New York, wo sie meinen, sie kennen sowieso schon alles auf der Welt.

    New York ist die Hauptstadt der Welt.

    Denken sie.

    Denken sie. Aber New York gefällt dir schon – oder nicht?

    Ich bin gerne dort. Ich habe eine ganze Menge Freunde dort. Und es ist ja auch immer was los. Seitdem viele der Großen im Laufe der letzten Jahre gestorben sind, als letzter zu nennen wäre da Miles Davis, ist die Entwicklung hin zum Kommerziellen immer größer geworden. Miles Davis hat es ja gut vorgemacht, dabei aber wenigstens noch phantastisch gespielt. Das ist Amerika, ganz speziell New York. Du musst, um überleben zu können, alles machen, um etwas zu essen zu bekommen und eine halbwegs ordentliche Wohnung zu halten. Meine ganzen Freunde, die Weißen wie die Schwarzen, würden alle lieber in Europa leben. Außerdem sind die Gagen in New York sowas von beschissen.

    Zu niedrig?

    Ich muss nicht vor der Tür spielen, aber ich war neulich in der Knitting Factory, ein abgefuckter Schuppen! Ich das sage ich öffentlich. Die denken wirklich, sie wären der Nabel der Welt und tun dabei so alternativ – was überhaupt nicht mehr stimmt. Allerdings bekomme ich dort Festgagen. Wenn du in New York auf Eintritt spielst, kannst du gerade dein Taxi nach Hause bezahlen und einen Cognac kaufen. Es ist wahnsinnig schwer, dort zu überleben.

    Ich weiß, dass du damals sehr frei angefangen hast. Du hast ja sicher Vorbilder oder Leute, die dich beeinflusst haben.

    Foto: Gerald Rouy

    Wir hatten vorhin ein bisschen über die bildene Kunst geredet, Leute wie Paik, Beuys, ein paar Katalanen wie Tápies – ach, da gibt es viele Namen aufzuzählen. Von denen habe ich jedenfalls viel gelernt. Was die Musik anbetrifft, bin ich die ganze Jazz-Geschichte durchgegangen, vom frühen Blues bis hin zu Coltrane. Oder Eric Delfi. Man darf bei mir auch Swing-Bebop-Saxophonisten wie Hawkins oder Webster nicht vergessen. Wie ich das dann für mich verarbeitet habe – weiß der Teufel. Ich habe jedenfalls immer viel gehört. Apropos Saxophon: Gestern bekam ich hier im Westwerk von einer Sabine ein altes Sexophon geschenkt. Ein gutes Ding. Ich muss noch dran arbeiten.

    Kann man die Musik, die du machst, nicht auch als Blues bezeichnen?

    Ich nenne es den „Europäischen Blues“. Den gibt es in dem Sinne, weil du soviel Energie hineinsteckst: Du freust dich und du ärgerst dich, kämpfst gegen und für Dinge. Es gibt Leute, die das ganz anders machen, und die auch in der Jazz-Geschichte hervorragende Arbeit geleistet haben. Aber meine Sache hat schon von Anfang an viel mit Energie zu tun gehabt.

    Wann hast du mit Ginger Baker zusammengearbeitet?

    Vor drei oder vier Jahren. Er bekam einen riesigen Schreck, als er meinen Kram hörte. Dann haben wir entdeckt, dass wir das gleiche Getränk mögen: Bacardi-Cola. Nach den ersten Flaschen haben wir uns irgendwie zusammengerauft und schließlich eine gemeinsame Platte aufgenommen. Sie heißt „Ein halber Hund kann nicht pinkeln“.

    Du hast viele Platten gemacht. Gibt es einige, die du gerne empfehlen würdest?

    Ich weiß nicht, so große Vorlieben habe ich eigentlich nicht. Es gibt welche, die inzwischen Klassiker sind: „Machine Gun“, einige Solo-Alben, ein paar gute mit „Last Exit“ und dazwischen gibt’s eben die ganzen langen Jahre, die Arbeit mit Fred van Hoove und Han Benning, wo wirklich gute Dinge dabei sind.

    Hattest du immer verschiedene Companies, oder hast du eine Hauptcompany, die deine Platten veröffentlicht?

    Nein, wir haben Ende der 60er Jahre unsere eigene Kollektiv-Firma in Berlin gegründet: „Free Music Production“. An ihr waren anfangs ganz viele Musiker beteiligt. Nur ging es über die Jahre hinweg nicht auf. Zuviele Eifersüchteleien. Dann wurde die Kollektiv-Konstruktion umgewandelt. Ich habe heute noch sehr viel damit zu tun und mache auch die meisten Platten dort, weil ich selbst entscheiden kann, wie, wann und wo etwas erscheint. Wir haben ein gut eingerichtetes Studio in Berlin.

    Welche Rolle spielen Plattenverkäufe in deinem Leben?

    Du kannst dir ja sicherlich vorstellen, dass ich nicht so viele Platten verkaufe. Von „Machine Gun“ habe ich von 1968 bis heute vielleicht 25.000 Einheiten verkauft. Das Problem ist ja nicht, dass es zu wenige Leute gäbe, die die Musik hören wollen, das Problem ist die Distribution.

    Als du angefangen hast, warst du ein „nicht Anerkannter“. Triffst du heute manchmal noch Leute aus dieser Zeit, die dich nicht anerkannt haben, aber jetzt wo du anerkannt bist, sich dir gegenüber anders verhalten?

    Klar. Das ist eine ganz menschliche Angelegenheit. Es gibt immer lustige Geschichten. Als ich vor vier, fünf Jahren anfing, mit Exit zu arbeiten, also mit dem berühmten Produzenten Bill Laswell und Leuten aus allen möglichen musikalischen Ecken, haben Journalisten und Musikerkollegen gedacht: „Jetzt geht’s aber los, Brötzmann!“ Mit ihrer Prognose „Brötzmann wird jetzt reich“ hatten sie aber leider nicht Recht

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